Der neue Hype schafft zunächst das Problem, dass das Theater passend gemacht werden muss für Lehrpläne und Schulbücher. Was vermag die Kunst, wenn der Tag um 7.30 Uhr mit Theater-Unterricht beginnt und die Gruppe 30 Teilnehmer umfasst? Dann sind oftmals didaktische Rezepte und methodische Baukästen gefragt. Zugleich lasten von Seiten der Bildungspolitik auf dem Schulfach Theater große Erwartungen: Es soll Teilhabe und soziale Inklusion verbessern, jungen Menschen helfen, ihre Individualität zu entfalten und selbstbewusst aufzutreten. Angesichts dieses Bildungsideals stellt sich die Frage, welches Theater dies leisten kann? Wie sieht die pädagogische Theaterwirklichkeit aus? Wieviel zählt das Ästhetische und wieviel das Soziale?
Größtes Schultheater-Event in Europa
Antworten auf diese Fragen kann das Festival Schultheater der Länder geben, das Ende September am Hans Otto-Theater in Potsdam mit großem Erfolg über die Bühne ging. Es findet seit 1985 jährlich in einem anderen Bundesland statt, seit 1994 auch unter Beteiligung der neuen Länder. Dabei präsentiert sich jedes der 16 Bundesländer mit einer Schultheater-Inszenierung vor etwa 500 Zuschauern. Einer thematischen Ausschreibung folgend bewerben sich die Produktionen, eine Jury entscheidet über die Einladungen. Organisiert vom Bundesverband „Theater in Schulen“ ist das Festival mittlerweile das größte Schultheater-Event in Europa, dennoch ist es kein Festival für das große Publikum. Außenstehende haben Schwierigkeiten an eine Eintrittskarte zu kommen, weil die mitwirkenden Schüler*innen und über 150 Fachteilnehmer*innen das Auditorium bereits durchgängig ausfüllen.
Das Treffen versteht sich eher als eine Werkstatt für Interne, eine Reflexion exemplarischer Möglichkeiten, und unterscheidet sich darin vom Berliner Theatertreffen der Jugend. Denn in Berlin werden Schulprojekte oder Theater-AGs zwar integriert, aber die professionellen Jugendclubs der größeren oder avancierten Häuser dominieren das Feld – viele der Teilnehmenden sind bereits in einer künstlerischen Ausbildung und in Kürze schon Profis. Das Festival Schultheater der Länder dagegen ist kein elitärer Club der Besten, sondern idealerweise eine Plattform für Erfahrungsaustausch zwischen Schülern und Lehrern. Es zeigt den aktuellen Stand der Diskussion – was die Szene bewegt und wohin sie steuert.
Hier sind die Formen des sogenannten Postdramatischen Theaters oder die Performancekunst wichtige Bezugspunkte geworden. 2012 hieß das Motto des Festivals noch „Der rote Faden“, was auf lineare Erzählformen hindeutet. Doch Projekt-Dramaturgien und Collage-Verfahren eignen sich besser als die literarische Stückvorlage, um möglichst viele Stile und Stimmen zu integrieren. Biografische Erzählweisen oder die Möglichkeiten neuer Medien stehen aktuell im Mittelpunkt der Diskussion um das Schultheater, was das aktuelle Festival-Motto „Theater.Film“ einzufangen versucht.
Chor und Popcorn
Soweit ähneln viele Schultheater-Produktionen aktuellen Formen im Gegenwartstheater, doch in einem Bereich sind sie der professionellen Theaterszene voraus: Beinahe alle Schüler-Produktionen leben von einem chorischen Inszenierungsansatz. Das mag selbstverständlich sein, wenn man mit Gruppen arbeitet, und pragmatische Gründe mögen vorherrschen. Doch viele Inszenierungen lassen sich auch als Plädoyers begreifen, statt auf wenige Egos auf eine heterogene Vielfalt zu setzen.
In der Hamburger Produktion „Einstimmig unschuldig“ des Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums wiederholen 23 schwarz gekleidete Eleven, untermalt von einem drängenden elektronischen Puls, den Anfangssatz aus Kleists verstörender Anekdote „Sonderbarer Rechtsfall in England“. Die gestochen scharfe chorische Rede kehrt in der Inszenierung immer wieder. Aus der Gruppe treten Einzelne hervor, sie spielen verschiedene juristische Fälle durch („So hätte der Streit aussehen können“), performen was das Zeug hält, vom Freestyle-Rap bis zur abgedrehten Königsparodie. Bei aller Spiellaune bleiben die Solos jedoch immer Teil eines Teams, die Darsteller kehren in die Gruppe zurück wie Breakdancer in ihre Crew.
Der chorische Ansatz tritt bei dieser Hamburger Schule, die auf Theater und Tanz spezialisiert ist, deutlich hervor und zeigt sich auch in Arbeiten, die keinen klassischen Chor auftreten lassen. Unter dem Titel „Klappe!“ zeigt eine Theater-AG von der Ricarda-Huch-Schule Braunschweig eine Hommage an jenen Teil der Filmgeschichte, der sonst im Dunkeln liegt: den Kino-Saal. So spielen die Schüler*innen Zuschauer, die sich aus der Passivität ihres Kino-Sessels erheben und sich selbst in Szene setzen. Sie bringen die Kleinigkeiten des Kinos auf die Bühne: Das alltägliche Popcorn, die Geräusche von Nebenan oder die Grimassen des ergriffenen Teenagers. Aus einem Meer von Lieblings-Zitaten („Ich sehe tote Menschen“, „Captain mein Captain“) taucht ein Matrose mit Blockflöte auf und fiept ergreifend schief die Titelmelodie von Titanic. Aus ironisch-heroischen Einzelaktionen bildet sich ein kollektiver Aufstand des Parterres im Lichte der Kinogeschichte.
Warmer Regen der Zuschauer
Die Zuschauer sind auf diesem Festival insgesamt deutlicher spürbar als anderswo: Durch starken Applaus machen sie sich hörbar, mit Standing Ovations werden die meisten der Produkionen laut gefeiert. Das Publikum wird nach jeder Vorstellung von Scouts dazu angeregt, prägende Eindrücke von den Stücken schriftlich festzuhalten. Zudem sind vor dem Hans-Otto-Theater Papierbahnen ausgerollt, auf denen die Schüler*innen das Gesehene mit Edding in der Hand kommentieren. Auch in Nachgesprächen tauschen sich die Schülergruppen untereinander aus. Eine spezielle Feedback-Methodik soll sicherstellen, dass dabei Respekt und konstruktive Resonanz im Vordergrund stehen.
Die Organisatoren haben diese Methodik für das Festival zusammen mit der Theaterpädagogin Maike Plathentwickelt, die unlängst von Rosa von Praunheim mit einem Dokumentarfilm geehrt wurde. ‚Warmer Regen‘ wird der Applaus genannt, mit denen die Gruppe, deren Produktion nun zur Diskussion stehen wird, empfangen wird. Dann präsentieren die Zuschauer ‚magische Momente‘, die ihnen besonders gut gefallen haben. Spielerisch werden Fragen und Antworten in der Form einer Pressekonferenz und einer Präsidentenrunde (Oval Office) inszeniert, bevor die Feedback-Runde in eine Oscar-Verleihung (jeder gewinnt!) übergeht.
Die ‚Erziehung zur Mündigkeit‘ erfordert heute, dass die Einzelnen lernen, ohne Stress und Angst aus eigenem Antrieb handeln zu können. Für diesen „stärkeorientierten“ Ansatz sollen sich die Spieler als Stars fühlen können. Ist das Kuschelpädagogik oder Empowerment? Und welche Rolle kommt den Zuschauern dabei zu? Während das bürgerliche Theater seit der Aufklärung den mitfühlenden, doch kritisch-distanzierten Zuschauer heranzuziehen versuchte, zeigt sich hier ein Publikum, das in subjektiver Anteilnahme geschult wird und dazu den Darstellern Mut spendet. Ob das aus dem Lebensgefühl der jungen Generation geboren ist oder eine pädagogische Aufgabe bleibt, wird sich zeigen. In den besten Momenten realisiert sich jedoch in der Festivalstimmung Schillers Emphase eines solidarischen Miteinanders, in dem die Einzelnen „durch eine allwebende Sympathie verbrüdert“ (und natürlich verschwestert) sind.
Disabled Theater – wie Inklusion gelingen kann
Die Stärken dieses Ansatzes zeigen sich auch darin, wie das Festival Menschen mit Behinderung integriert. Die Produktion „Rollin Love“ von der Geschwister-Scholl-Schule Weingarten (Baden-Würtemberg) stammt von körperlich schwerbehindeten Spielern im Rollstuhl. Sie sind sogenannte Talker, sprechen nicht mit ihren eigenen Stimmen, sondern unterstützt durch Sprachausgabegeräte, die sie mit Hand, Knie oder ihrem Blick bedienen. Dadurch schaffen sie etwas, das professionellen Schauspielern selten gelingt: Ihre Figuren brauchen keine konventionellen Imitationen von Wirklichkeit, sondern werden aus den technisch erzeugten Stimmen und den ausdrucksstarken Körpern zusammengesetzt.
Der Minimalismus der Erzählung, die sich langsam im technisch unterstütztem Sprechen entfaltet, hat Witz. Gebannt verfolgt das Publikum, wie Lukas sich zusammen mit seinen Freunden ins Online-Dating stürzt – und dabei natürlich ins Wanken gerät. Die Gruppe der Rollstuhlfahrer kommentiert ihre eigene Situation so selbstironisch, dass der Saal ab der ersten Minute emphatisch mitlacht, ohne dass je der Eindruck entsteht, über die betroffenenen Darsteller zu lachen.
Die Kunst ist aus den Fugen
Die Inszenierung ist denkbar weit weg von den hergebrachten Konventionen des Theaters in der Schulaula. Natürlich stammt auch auf diesem Festival einiges aus dem klassischen Werkzeugkoffer des Kinder- und Jugendtheaters: Stop-Motion-Dance bei Schwarzlicht, Tanzszenen mit Disco-Kugel, Tendenzen zum allseits beliebten Musical. Doch die alten Klischees haben ausgedient und es wird klar, dass ein völlig neuer Blick auf die Szene nötig ist: Das Schultheater gibt es nicht, es sind zunehmend vielfältige Mischformen aus Schauspiel, Video, Tanz, Musik – und die interessantesten Produktionen wollen sich nicht disziplinär festlegen.
Daher ist das diesjährige Festivalmotto „Theater.Film“ gut gewählt, zeigt es doch, woher die aktuellen Geschichten und Bilder gerade in dieser Generation stammen. An vielen bayerischen Schulen wird, was früher „Darstellendes Spiel“ hieß, heute schon „Theater und Film“ genannt. Das Videobild hat den klassischen Film dabei längst überholt und es ist abzusehen, dass neue technische Medien die künstlerischen Fächer an den Schulen zukünftig noch stärker beschäftigen werden.
Neben Video und Film sind aktuell für die Theaterarbeit an den Schulen besonders Formen der Choreografie bedeutend. Dafür muss nicht klassisch getanzt werden. In der Tanztheater-Produktion „Immerzu.immerzu!“ des Goethe-Gymnasiums Schwerin rotieren etwa 20 Darsteller*innen beinahe unablässig gemeinsam im Kreis. Der Bühnenboden ist mit Erde aufgefüllt, das Stück läuft im Halbdunkel. Dabei entfaltet das kontinuierliche Drehen – laufend, schleichend, hüpfend, sich zerrend, hinfallend, weiterlaufend – eine Sogbewegung, in die Zitate aus Büchners Woyzeck als Stimmen aus dem Off eingespeist werden, aber auch abstrakte Videobilder und elektronische Sounds. Die Inszenierung spielt auf diese Weise kein Drama nach, sondern macht das Haltlose der Körper in Büchners Textfragment assoziativ zum Thema. Die Schweriner Schule bietet ein musisches Profil mit Vertiefungsmöglichkeit auf Tanztheater an und verschafft dem Schultheater-Festival einen starken Höhepunkt.
Theater als ‚andere Schule‘ – Zuhören statt Prägen
Wer heute gesellschaftlich etwas verändern will, so heißt es oft, muss in den Schulen ansetzen. Mit dem Theater ist eine ‚andere Schule‘ denkbar, wenn das Spiel nicht nachahmt, sondern Freiräume schafft für ungeahnte Bewegungen, Bilder, Klänge und Sprachen. Daher kam die Diskussion in den Fachforen des Festivals immer wieder auf die Frage zu sprechen, was die ideale Theatermethodik sei, die nicht allein darauf abzielt, die Schüler zu prägen, sondern fähig ist zu hören, was von ihnen kommt, was sich an Neuem abzeichnet.
Leider bietet das Festival hierfür nur die Form des frontalen Guckkastens an. Auch wenn die Akustik hervorragend ist und die Technik auf dem neuesten Stand, so wäre es an der Zeit, andere Bühnenformen zu schaffen. Den Mut, um sie einzunehmen, den künstlerischen Eigensinn, um sie zu bespielen, gibt es heute schon.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Nachtkritik.de, mit freundlicher Genehmigung von Matthias Dreyer.