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Schauspiel als Empowerment (SdL 2017)

Der neue Hype schafft zunächst das Problem, dass das Theater passend gemacht werden muss für Lehrpläne und Schulbücher. Was vermag die Kunst, wenn der Tag um 7.30 Uhr mit Theater-Unterricht beginnt und die Gruppe 30 Teilnehmer umfasst? Dann sind oftmals didak­ti­sche Rezepte und metho­di­sche Baukästen gefragt. Zugleich lasten von Seiten der Bildungspolitik auf dem Schulfach Theater große Erwartungen: Es soll Teilhabe und soziale Inklusion verbes­sern, jungen Menschen helfen, ihre Individualität zu entfal­ten und selbst­be­wusst aufzu­tre­ten. Angesichts dieses Bildungsideals stellt sich die Frage, welches Theater dies leis­ten kann? Wie sieht die pädago­gi­sche Theaterwirklichkeit aus? Wieviel zählt das Ästhetische und wieviel das Soziale?

Größtes Schultheater-Event in Europa

Antworten auf diese Fragen kann das Festival Schultheater der Länder geben, das Ende September am Hans Otto-Theater in Potsdam mit großem Erfolg über die Bühne ging. Es findet seit 1985 jähr­lich in einem ande­ren Bundesland statt, seit 1994 auch unter Beteiligung der neuen Länder. Dabei präsen­tiert sich jedes der 16 Bundesländer mit einer Schultheater-Inszenierung vor etwa 500 Zuschauern. Einer thema­ti­schen Ausschreibung folgend bewer­ben sich die Produktionen, eine Jury entschei­det über die Einladungen. Organisiert vom Bundesverband „Theater in Schulen“ ist das Festival mitt­ler­weile das größte Schultheater-Event in Europa, dennoch ist es kein Festival für das große Publikum. Außenstehende haben Schwierigkeiten an eine Eintrittskarte zu kommen, weil die mitwir­ken­den Schüler*innen und über 150 Fachteilnehmer*innen das Auditorium bereits durch­gän­gig ausfüllen.

Das Treffen versteht sich eher als eine Werkstatt für Interne, eine Reflexion exem­pla­ri­scher Möglichkeiten, und unter­schei­det sich darin vom Berliner Theatertreffen der Jugend. Denn in Berlin werden Schulprojekte oder Theater-AGs zwar inte­griert, aber die profes­sio­nel­len Jugendclubs der größe­ren oder avan­cier­ten Häuser domi­nie­ren das Feld – viele der Teilnehmenden sind bereits in einer künst­le­ri­schen Ausbildung und in Kürze schon Profis. Das Festival Schultheater der Länder dage­gen ist kein elitä­rer Club der Besten, sondern idea­ler­weise eine Plattform für Erfahrungsaustausch zwischen Schülern und Lehrern. Es zeigt den aktu­el­len Stand der Diskussion – was die Szene bewegt und wohin sie steuert.

Hier sind die Formen des soge­nann­ten Postdramatischen Theaters oder die Performancekunst wich­tige Bezugspunkte gewor­den. 2012 hieß das Motto des Festivals noch „Der rote Faden“, was auf lineare Erzählformen hindeu­tet. Doch Projekt-Dramaturgien und Collage-Verfahren eignen sich besser als die lite­ra­ri­sche Stückvorlage, um möglichst viele Stile und Stimmen zu inte­grie­ren. Biografische Erzählweisen oder die Möglichkeiten neuer Medien stehen aktu­ell im Mittelpunkt der Diskussion um das Schultheater, was das aktu­elle Festival-Motto „Theater.Film“ einzu­fan­gen versucht.

Chor und Popcorn

Soweit ähneln viele Schultheater-Produktionen aktu­el­len Formen im Gegenwartstheater, doch in einem Bereich sind sie der profes­sio­nel­len Theaterszene voraus: Beinahe alle Schüler-Produktionen leben von einem chori­schen Inszenierungsansatz. Das mag selbst­ver­ständ­lich sein, wenn man mit Gruppen arbei­tet, und prag­ma­ti­sche Gründe mögen vorherr­schen. Doch viele Inszenierungen lassen sich auch als Plädoyers begrei­fen, statt auf wenige Egos auf eine hete­ro­gene Vielfalt zu setzen.

In der Hamburger Produktion „Einstimmig unschul­dig“ des Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums wieder­ho­len 23 schwarz geklei­dete Eleven, unter­malt von einem drän­gen­den elek­tro­ni­schen Puls, den Anfangssatz aus Kleists verstö­ren­der Anekdote „Sonderbarer Rechtsfall in England“. Die gesto­chen scharfe chori­sche Rede kehrt in der Inszenierung immer wieder. Aus der Gruppe treten Einzelne hervor, sie spie­len verschie­dene juris­ti­sche Fälle durch („So hätte der Streit ausse­hen können“), perfor­men was das Zeug hält, vom Freestyle-Rap bis zur abge­dreh­ten Königsparodie. Bei aller Spiellaune blei­ben die Solos jedoch immer Teil eines Teams, die Darsteller kehren in die Gruppe zurück wie Breakdancer in ihre Crew.

Der chori­sche Ansatz tritt bei dieser Hamburger Schule, die auf Theater und Tanz spezia­li­siert ist, deut­lich hervor und zeigt sich auch in Arbeiten, die keinen klas­si­schen Chor auftre­ten lassen. Unter dem Titel „Klappe!“ zeigt eine Theater-AG von der Ricarda-Huch-Schule Braunschweig eine Hommage an jenen Teil der Filmgeschichte, der sonst im Dunkeln liegt: den Kino-Saal. So spie­len die Schüler*innen Zuschauer, die sich aus der Passivität ihres Kino-Sessels erhe­ben und sich selbst in Szene setzen. Sie brin­gen die Kleinigkeiten des Kinos auf die Bühne: Das alltäg­li­che Popcorn, die Geräusche von Nebenan oder die Grimassen des ergrif­fe­nen Teenagers. Aus einem Meer von Lieblings-Zitaten („Ich sehe tote Menschen“, „Captain mein Captain“) taucht ein Matrose mit Blockflöte auf und fiept ergrei­fend schief die Titelmelodie von Titanic. Aus ironisch-heroi­schen Einzelaktionen bildet sich ein kollek­ti­ver Aufstand des Parterres im Lichte der Kinogeschichte.

Warmer Regen der Zuschauer

Die Zuschauer sind auf diesem Festival insge­samt deut­li­cher spür­bar als anderswo: Durch star­ken Applaus machen sie sich hörbar, mit Standing Ovations werden die meis­ten der Produkionen laut gefei­ert. Das Publikum wird nach jeder Vorstellung von Scouts dazu ange­regt, prägende Eindrücke von den Stücken schrift­lich fest­zu­hal­ten. Zudem sind vor dem Hans-Otto-Theater Papierbahnen ausge­rollt, auf denen die Schüler*innen das Gesehene mit Edding in der Hand kommen­tie­ren. Auch in Nachgesprächen tauschen sich die Schülergruppen unter­ein­an­der aus. Eine spezi­elle Feedback-Methodik soll sicher­stel­len, dass dabei Respekt und konstruk­tive Resonanz im Vordergrund stehen.

Die Organisatoren haben diese Methodik für das Festival zusam­men mit der Theaterpädagogin Maike Plathentwi­ckelt, die unlängst von Rosa von Praunheim mit einem Dokumentarfilm geehrt wurde. ‚Warmer Regen‘ wird der Applaus genannt, mit denen die Gruppe, deren Produktion nun zur Diskussion stehen wird, empfan­gen wird. Dann präsen­tie­ren die Zuschauer ‚magi­sche Momente‘, die ihnen beson­ders gut gefal­len haben. Spielerisch werden Fragen und Antworten in der Form einer Pressekonferenz und einer Präsidentenrunde (Oval Office) insze­niert, bevor die Feedback-Runde in eine Oscar-Verleihung (jeder gewinnt!) übergeht.

Die ‚Erziehung zur Mündigkeit‘ erfor­dert heute, dass die Einzelnen lernen, ohne Stress und Angst aus eige­nem Antrieb handeln zu können. Für diesen „stär­ke­ori­en­tier­ten“ Ansatz sollen sich die Spieler als Stars fühlen können. Ist das Kuschelpädagogik oder Empowerment? Und welche Rolle kommt den Zuschauern dabei zu? Während das bürger­li­che Theater seit der Aufklärung den mitfüh­len­den, doch kritisch-distan­zier­ten Zuschauer heran­zu­zie­hen versuchte, zeigt sich hier ein Publikum, das in subjek­ti­ver Anteilnahme geschult wird und dazu den Darstellern Mut spen­det. Ob das aus dem Lebensgefühl der jungen Generation gebo­ren ist oder eine pädago­gi­sche Aufgabe bleibt, wird sich zeigen. In den besten Momenten reali­siert sich jedoch in der Festivalstimmung Schillers Emphase eines soli­da­ri­schen Miteinanders, in dem die Einzelnen „durch eine allwe­bende Sympathie verbrü­dert“ (und natür­lich verschwes­tert) sind.

Disabled Theater – wie Inklusion gelin­gen kann

Die Stärken dieses Ansatzes zeigen sich auch darin, wie das Festival Menschen mit Behinderung inte­griert. Die Produktion „Rollin Love“ von der Geschwister-Scholl-Schule Weingarten (Baden-Würtemberg) stammt von körper­lich schwer­be­hin­de­ten Spielern im Rollstuhl. Sie sind soge­nannte Talker, spre­chen nicht mit ihren eige­nen Stimmen, sondern unter­stützt durch Sprachausgabegeräte, die sie mit Hand, Knie oder ihrem Blick bedie­nen. Dadurch schaf­fen sie etwas, das profes­sio­nel­len Schauspielern selten gelingt: Ihre Figuren brau­chen keine konven­tio­nel­len Imitationen von Wirklichkeit, sondern werden aus den tech­nisch erzeug­ten Stimmen und den ausdrucks­star­ken Körpern zusammengesetzt.

Der Minimalismus der Erzählung, die sich lang­sam im tech­nisch unter­stütz­tem Sprechen entfal­tet, hat Witz. Gebannt verfolgt das Publikum, wie Lukas sich zusam­men mit seinen Freunden ins Online-Dating stürzt – und dabei natür­lich ins Wanken gerät. Die Gruppe der Rollstuhlfahrer kommen­tiert ihre eigene Situation so selbst­iro­nisch, dass der Saal ab der ersten Minute empha­tisch mitlacht, ohne dass je der Eindruck entsteht, über die betrof­fe­ne­nen Darsteller zu lachen.

Die Kunst ist aus den Fugen

Die Inszenierung ist denk­bar weit weg von den herge­brach­ten Konventionen des Theaters in der Schulaula. Natürlich stammt auch auf diesem Festival eini­ges aus dem klas­si­schen Werkzeugkoffer des Kinder- und Jugendtheaters: Stop-Motion-Dance bei Schwarzlicht, Tanzszenen mit Disco-Kugel, Tendenzen zum allseits belieb­ten Musical. Doch die alten Klischees haben ausge­dient und es wird klar, dass ein völlig neuer Blick auf die Szene nötig ist: Das Schultheater gibt es nicht, es sind zuneh­mend viel­fäl­tige Mischformen aus Schauspiel, Video, Tanz, Musik – und die inter­es­san­tes­ten Produktionen wollen sich nicht diszi­pli­när festlegen.

Daher ist das dies­jäh­rige Festivalmotto „Theater.Film“ gut gewählt, zeigt es doch, woher die aktu­el­len Geschichten und Bilder gerade in dieser Generation stam­men. An vielen baye­ri­schen Schulen wird, was früher „Darstellendes Spiel“ hieß, heute schon „Theater und Film“ genannt. Das Videobild hat den klas­si­schen Film dabei längst über­holt und es ist abzu­se­hen, dass neue tech­ni­sche Medien die künst­le­ri­schen Fächer an den Schulen zukünf­tig noch stär­ker beschäf­ti­gen werden.

Neben Video und Film sind aktu­ell für die Theaterarbeit an den Schulen beson­ders Formen der Choreografie bedeu­tend. Dafür muss nicht klas­sisch getanzt werden. In der Tanztheater-Produktion „Immerzu.immerzu!“ des Goethe-Gymnasiums Schwerin rotie­ren etwa 20 Darsteller*innen beinahe unab­läs­sig gemein­sam im Kreis. Der Bühnenboden ist mit Erde aufge­füllt, das Stück läuft im Halbdunkel. Dabei entfal­tet das konti­nu­ier­li­che Drehen – laufend, schlei­chend, hüpfend, sich zerrend, hinfal­lend, weiter­lau­fend – eine Sogbewegung, in die Zitate aus Büchners Woyzeck als Stimmen aus dem Off einge­speist werden, aber auch abstrakte Videobilder und elek­tro­ni­sche Sounds. Die Inszenierung spielt auf diese Weise kein Drama nach, sondern macht das Haltlose der Körper in Büchners Textfragment asso­zia­tiv zum Thema. Die Schweriner Schule bietet ein musi­sches Profil mit Vertiefungsmöglichkeit auf Tanztheater an und verschafft dem Schultheater-Festival einen star­ken Höhepunkt.

Theater als ‚andere Schule‘ – Zuhören statt Prägen

Wer heute gesell­schaft­lich etwas verän­dern will, so heißt es oft, muss in den Schulen anset­zen. Mit dem Theater ist eine ‚andere Schule‘ denk­bar, wenn das Spiel nicht nach­ahmt, sondern Freiräume schafft für unge­ahnte Bewegungen, Bilder, Klänge und Sprachen. Daher kam die Diskussion in den Fachforen des Festivals immer wieder auf die Frage zu spre­chen, was die ideale Theatermethodik sei, die nicht allein darauf abzielt, die Schüler zu prägen, sondern fähig ist zu hören, was von ihnen kommt, was sich an Neuem abzeichnet.

Leider bietet das Festival hier­für nur die Form des fron­ta­len Guckkastens an. Auch wenn die Akustik hervor­ra­gend ist und die Technik auf dem neues­ten Stand, so wäre es an der Zeit, andere Bühnenformen zu schaf­fen. Den Mut, um sie einzu­neh­men, den künst­le­ri­schen Eigensinn, um sie zu bespie­len, gibt es heute schon.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Nachtkritik.de, mit freund­li­cher Genehmigung von Matthias Dreyer.